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Was, wenn ich nicht mehr “die Aussteigerin” bin?

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Seit 3 Jahren spreche ich öffentlich über meinen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas. Und manchmal frage ich mich: Wie lange will ich das noch tun? Kann ich mich mit der Aussteigerin noch identifizieren oder hat inzwischen etwas anderes in meinem Leben diesen Platz eingenommen?

(Titelfoto von Salvatore Vinci)

Jedes Mal, wenn ich mich an den Schreibtisch setze um etwas neues aufs Papier zu bringen, stehe ich seit Wochen vor dem gleichen Dilemma: Über WAS schreibe ich? Ich habe einerseits diese innere Stimme, die mir sagt, ich sollte über meinen Sektenausstieg und alles was davor und danach passierte sowie über das Thema „Religiöses Trauma“ schreiben. Aufklären. Betroffenen damit weiterhelfen. Mutmachen. 

Andererseits habe ich immer weniger Bock darauf, über diesen Teil meines Lebens weitere Worte zu verlieren. Es ermüdet mich manchmal regelrecht, darüber schreiben oder Videos machen zu „müssen“. Weil ich mich in einem Übergang befinde. Weil ich mich mit der „Aussteigerin“ nicht mehr richtig identifizieren kann. Und dieses Hin- und Hergerissensein hält mich vom Schreiben ab, so dass ich mich eher im Denken über das Schreiben verliere, als im Schreiben an sich. 

Diese Sektenzeit ist tatsächlich meine Vergangenheit. Diese endlos langen Jahre in einer fanatischen religiösen Gruppe haben mich geprägt. Aber das liegt nun einige Zeit hinter mir. Und selbst wenn vieles davon einerseits noch Auswirkungen auf mein heutiges Leben hat, hat sich andererseits doch gravierend etwas verändert.

Auf der einen Seite bekomme ich wahnsinnig viel Feedback von Menschen, denen das, was ich so vom Stapel lasse, tatsächlich weiterhilft. Und das freut mich ungemein. Im Grunde ist das einer der Hauptgründe, warum ich in all den Jahren immer wieder weitergemacht habe, obwohl ich so manches mal damit haderte, weil es mich eben auch hin und wieder nervt, was diese andere Sorte von Aussteigern vom Stapel lässt. Die Meckerliesen, die Dummschwätzer, die Besserwisser, die “Anonymen Stänkerer” und Trolle. Die, die unzufrieden sind mit ihrem Dasein, ihren Ausstieg nie richtig verarbeitet haben und mich als Projektionsfläche für ihren Frust benutzen. Das sind zum Glück die wenigsten. Dennoch komme ich immer weniger damit klar, wenn Menschen ihre Probleme nicht anpacken sondern sich in ihrem “Opferdasein” suhlen und in erster Linie andere für ihr trauriges Leben verantwortlich machen.

Der Fokus hat sich verschoben

Mein Lebens-Fokus liegt nicht mehr auf Glaube und Religion (wie früher in dieser christlichen Gemeinschaft). Und auch nicht mehr auf dem Gegenteil: Wegzukommen von einem Glaubenskonstrukt, das mein Leben behindert hat oder alles zu thematisieren, was Glaube und Religion an Schaden anrichten können. Mein Leben ist bunter geworden. Vielfältiger. Facettenreicher. Ich interessiere mich für Dinge, die ich früher nicht einmal richtig benennen konnte, weil ich einfach keine Kapazität dafür hatte oder es in diesem früheren Leben verpönt war, sich damit zu beschäftigen.

Ich habe keine Lust auf einen REINEN Blog über die Themen Ausstieg, Sekten, Kulte, Religiöses Trauma. Aus gutem Grund, wie ich finde. Ich bin einfach nicht „nur“ eine Aussteigerin. Ich bin ein Mensch, der sehr viele Interessen, Wünsche, Ideen, Talente, Vorstellungen vom Leben hat. Mich beschäftigen so viele Dinge, die mit Religion überhaupt gar nichts zu tun haben. Diese Themen wie Glaube, (religiöser) Fanatismus, Gefährlichkeit von Sekten und was man dagegen tun kann, die Zeugen Jehovas an sich, Religiöses Trauma usw. geben mir nicht mehr so viel Lebensinhalt. Sie verblassen mehr und mehr.

Die Faszination für dieses graue Gefängnis schwindet und weicht einer farbenfrohen Welt, die es Wert ist, erkundet zu werden und vor allem GELEBT zu werden. Mit all ihren dunklen und hellen Seiten. All ihrer Freude und ihrem Schmerz. In all ihren Höhen und Tiefen.

Aussteigerin Natalie Barth

Den eigenen Weg finden – als Aussteigerin

Wenn man seinen eigenen Weg findet und geht, dann geht man ihn auch in der Geschwindigkeit, in der man möchte und kann. Man lässt sich nicht von Zwischenrufen anderer treiben und man lässt sich auch nicht von Worten anderer abhalten, voran zu gehen. Man lernt die eigenen Grenzen kennen und verteidigen. 

Etwas, das man als Sektenkind niemals lernte: Dort wurden die Grenzen von anderen gesteckt: Von den Eltern, den Freunden, den Gruppenleitern, den Gurus in der Hauptzentrale. Oder auch von Gott. Und zwar nicht nur als Kind, sondern in jeder Altersklasse.

Heute gehe ich meinen Weg und lerne mehr und mehr mir selbst zu vertrauen und auf den „guten Ruf“ bei anderen mehr oder weniger zu scheissen.

„Geh schneller!“
„Geh langsamer!“
„Bleib stehen!“
„Kehre um!“
„Geh einen anderen Weg!“

Die Liste der Rufe von Menschen, die es gut meinen, ist fast unendlich lang und widersprüchlich. Vor allem die Rufe derjenigen, die denken, einen super neuen Weg entdeckt zu haben und diesen Weg einem anderen Individuum in missionarischem Eifer aufschwatzen wollen. Oder die klugen Ratschläge derjenigen, die diesen Weg (noch) gar nicht gegangen sind und glauben, sie wüssten trotzdem genau, wie und was jetzt an der Zeit wäre.

Und so habe ich beschlossen, zu schreiben, was mich bewegt, unabhängig davon, ob das jetzt sein „sollte“ oder nicht. Unabhängig davon, was andere gerade hören, lesen und sehen wollen oder nicht. Zu lange habe ich meinen Weg nach anderen – Gott oder Menschen – ausgerichtet. Jetzt nicht mehr. Und damit, dass ich dies hier schreibe, möchte ich noch etwas sagen, das vielleicht für Aussteiger, die in einer ähnlichen Phase sind, wie ich, hilfreich sein könnte:

„Dein Weg ist individuell. Du bestimmst ihn zum grossen Teil, denn Du kennst Deine Grenzen am besten. Du hast ihn in der Hand, weil Du selbst diese Grenzen setzen und nach Aussen verteidigen musst. Die Verantwortung für Dein Leben hast Du! 

Ja, die Sekte, die religiösen Führer, die Eltern, die Glaubensbrüder, die Freunde haben eine Menge von Problemen verursacht, mit denen Du, mit denen ich zurechtkommen mussten. Wir haben uns schliesslich nicht ausgesucht, dort hineingeboren zu werden. Aber JETZT ist eine andere Zeit als gestern. Du bist nicht mehr derselbe Mensch, es ist nicht mehr dasselbe Leben. Das zu akzeptieren und ein neues Leben zu beginnen, ist wichtig. Das kann Angst machen. Aber es ist der einzige Weg in die Freiheit.“

“Die Aussteigerin” gibt es nicht mehr

Jedenfalls möchte ICH nicht mein Leben lang „die Aussteigerin“ sein. Ich möchte all das andere sein, das in mir schlummert und gelebt werden will. Denn ich habe eine Meinung zu politischen Themen, zu Umweltschutz, zu Tierschutz, zu Krieg, zu Flüchtlingen, zu psychologischen Themen, zu Kunst, zu Kultur, zu Bildungssystemen etc. Ich interessiere mich dafür, wie technische Dinge, Gesellschaften, Menschen funktionieren. Mich faszinieren Soziologie, Sprache und das Führen von Debatten. Die Liste könnte ich noch eine ganze Weile fortführen. Viel zu viel für ein Menschenleben, um wirklich tiefer in all das eintauchen zu können. Mir bleibt demnach nicht mehr ewig Zeit, warum also sollte ich diese kostbaren Momente meines restlichen Lebens darin verschwenden, mich in erster Linie einem Thema zu widmen, dass mir viel zu lange viel zu viel Stress und Probleme verursacht hat? Ob nun als Insiderin oder als Aussteigerin? 

Ich werde dieses Thema niemals komplett hinter mir lassen, das ist für mich sicher. Dennoch: Alles hat seine Zeit. Alles hat seine passenden Momente. Das Leben verläuft in Phasen und steht niemals still, bleibt niemals gleich.

Leben ist Veränderung. Und das einzig Sinnvolle, vielleicht auch der Sinn des Lebens, ist, mit dieser Veränderung mitzufliessen, statt an Altem festzuhängen. Loslassen, statt in der Vergangenheit aufzugehen. Sich dem Leben hingeben, statt alles zu kontrollieren. 

Statt zu kämpfen, das Neue einfach willkommen zu heissen und sich darauf einzulassen.

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4 Comments

  • Guido

    Die Gefühle kann ich sehr gut nachvollziehen. Mir geht es fast genauso. Es ist ein Übergang und die gründliche Verarbeitung eigener Gefühle und Gedanken war für uns alle wohl hilfreich. Wertvoll in dieser Phase auch wenn es Menschen wie Dich gibt, die offen und öffentlich damit sind.

    Aber das hilft den meisten eben nur für eine gewisse Zeit, danach könnte es sogar toxisch sein, immer in diesen alten Denkmustern zu verweilen und sie wieder wach zu rufen. Auch weil wir vielleicht verpassen, was das Leben wieder anderes für uns bereit hält.

    • Natalie

      Lieber Guido,
      Vielen Dank für Deinen wertvollen Kommentar. Ich gebe Dir auf jeden Fall recht, zu lange dort zu verweilen kann mit der Zeit toxisch sein und wir verpassen das Leben. Das WIRKLICHE Leben 😉

  • Mato

    Zu oft und immer wieder erlebe ich genau dies, das Festhalten an der Vergangenheit, dies nicht Loslassen können. Ein ewiges Durchkauen der immer gleichen Problematik und damit ein Feststecken eines traumatischen Erlebens. Sage ich es mit deutlichen Worten und mache ich auf diese selbstgewählte Sklaverei aufmerksam, dann folgt Verbitterung und Unverständnis. Willst du für immer ein Gefangener der Zeugen sein, frage ich und mache auf die Vorzüge einer wirklichen Freiheit der Gefühle und des Denkens aufmerksam. Aber es nützt wenig, die Wunden wollen gepflegt sein.
    Es ist schön zu lesen, wie du diese Freiheit erspürst und die Zwänge der Vergangenheit nicht mehr die Zukunft bestimmen sollen. Das sollten viele Ex-ZJ nachspüren oder zumindest einmal gedanklich erfassen. Wer wirklich restlos abgeschlossen hat, der braucht tatsächlich nicht mehr die ewige Opferrolle, die wie ein Anker die Seele beschwert.
    Wertvolle Gedanken, die du hier in deinem Blog mitteilst und ich hoffe, auch die Ex-Zeugen finden her, um deine positive Entwicklung als Vorbild zu sehen.

    Aktuell habe ich mich bei infolink angemeldet, um mal nach langer Zeit wieder in die Welt der Ausgeschlossenen einzutauchen. Natürlich nicht um zu jammern oder klagen!

    • Natalie

      Lieber Mato

      vielen Dank für Deinen schönen Kommentar und sorry fürs späte Freischalten und Antworten.
      Ich wünsche auch Dir alles Gute und Liebe für Deinen weiteren Weg 🙂

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