Natalies Diary
Natalies Diary Corona Missionieren
Gedanken

Vom Missionieren und Revidieren…

Anhören
Diesen Artikel anhören

Ehrlicherweise muss ich nun zugeben, dass meine Tendenzen, andere Menschen missionieren zu wollen (wie ich es ja bei den Zeugen Jehovas par excellence getan hatte) wieder dabei sind, Einzug in die Ausführungen zu halten. Und das zu einem Thema, das mich vor ein paar Monaten noch nicht im Ansatz berührt hat.

Okay, der Grund ist klar: Die ganze Welt wurde durch Corona durchgeschüttelt – egal auf welcher der vielen Seiten man in diesem weltweiten Spektakel stehen mag. Direkt oder indirekt betrifft es uns alle. Natürlich hat auch jeder seine eigene Meinung dazu.

Die Gefühle kochen hoch und das Unverständnis für Menschen, die da ganz anders ticken als man selbst, steigt teilweise ins Unermessliche. Auch bei mir. 

Manchmal wird gesagt, Corona spalte die Welt, die Menschen und wir sollten doch lieber versuchen uns jetzt gemeinsam zu unterstützen und Liebe zu zeigen. Langsam gewinne ich aber den Eindruck, dass die Spaltungen bereits seit vielen Jahren bestehen und nur nicht so offensichtlich waren. Durch Corona kommen Dinge ans Licht in unserer Gesellschaft, Wirtschaft, Lebensweise etc. die einfach vorher keiner sehen wollte. 

Muss ich meine “Wahrheit” missionieren?

Ich habe natürlich auch meinen Standpunkt, gestehe aber hier zu, dass ich nicht alles wissen kann und ich eventuell meine Meinung auch immer wieder revidieren muss. Diesen Spielraum halte ich mir offen – das ist etwas, was ich aus meinem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas gelernt habe…

…aber auch aus der Zeit danach, als ich mich eine Zeitlang zu sehr auf die Dogmen der Natürlichen Medizin und spiritueller Richtungen eingelassen habe.

Es gibt für mich nicht mehr diese absolute Wahrheit, die unumstössliche, die man nicht in Zweifel ziehen darf. Die, die mich über das Wohl und die Meinung anderer hinweggehen lässt. Ich muss mich im Laufe meines Lebens wohl noch öfter korrigieren und hoffe, dass ich das auch mache und nicht wieder einem blinden Glauben verfalle. 

Massive Tendenzen zu missionieren

Ich spüre allerdings noch ganz massive Tendenzen in mir, andere von meinem momentanen Standpunkt überzeugen zu wollen. Ein missionarisch, militanter Eifer überfällt mich bisweilen, der weder besonders angenehm für mich selbst noch für andere ist. Ganz besonders merke ich das in den letzten Monaten, als die Corona-Krise uns alle überrascht hat.

Ich nehme wahr, dass ich in meinen Kommentaren und Reaktionen auf Facebook und hier während des Schreibens meiner Blogartikel den Wunsch habe, andere zu überzeugen. Oder zumindest zum Nachdenken zu bringen, über das was sie von sich geben oder wie sie handeln.

Zweifel am eigenen Weltbild

Das war nicht der ursprüngliche Gedanke, diesen Blog zu starten. Ich möchte eigentlich wegkommen von dieser Art und Weise, anderen meine Meinung aufzustülpen. Ich finde es schrecklich genug, dass ich das im religiösen Sinn mit anderen Menschen so viele Jahre lang machte. Ich finde es auch keine Glanzleistung, dass mir dasselbe nach dem Ausstieg wieder passiert ist, mit Themen im Gesundheitsbereich oder der Persönlichkeitsentwicklung oder auch von Weltanschauungen und spirituellen Erklärungen. Immer wieder kam dieses Dogmen-Denken durch. 

Und immer wieder umgab ich mich auch mit anderen Menschen, die gerne ihr Weltbild für allgemeingültig erklärten. Besonders fiel mir das mir das genau jetzt, in dieser Krise, auf. Die Interpretation der momentanen Geschehnisse ist bei diesen Menschen nur noch in eine bestimmte Richtung möglich. Nämlich in die, die ihrer Wahrheit und Sichtweise voll entspricht, die sie sich mühsam aufgebaut haben. Selbstzweifel und das eigene Weltbild wieder neu in Frage zu stellen, scheint nicht mehr möglich. Eine einmal gewonnene Erkenntnis muss um jeden Preis verteidigt werden.

Ja, ich kenne das zu gut. Denn ich habe es genauso gemacht. Nicht nur in religiösen Themen. Und noch schlimmer: Es schlummert immernoch in mir, ob ich mir das jetzt gerne eingestehen möchte oder nicht.

Missionieren finde ich unangenehm

Gerade in dieser Krise schlägt mir das militante, missionarische Vertreten des eigenen Weltbilds, ohne irgendwelche Zweifel an der eigenen Sicht und ohne Rücksicht auf Verluste sehr ausgeprägt entgegen. Ich empfinde das als sehr unangenehm, unmenschlich, fanatisch, zum Teil blöd, dumm, einfältig und würde das alles gerne noch mit viel mehr Ausdrücken benennen, die ich hier jetzt sicherheitshalber mal nicht aufliste.

Und dann, plötzlich, merke ich, dass ich mir diese Ausdrücke auch gerne selbst an den Kopf werfen dürfte, denn ich versuche ja ebenfalls andere zu «erziehen» und darauf hinzuweisen, dass sie falsch liegen.

Eine Selbsterkenntnis, die mir dann doch nicht unbedingt angenehm ist. Aber ziemlich wichtig. Vor allem für mein eigenes Seelenheil. 

Freie Meinungsäusserung

Ich möchte gerne weiterhin meine Meinung äussern. Und ich empfinde das auch als äusserst wichtig auf diese Meinungsfreiheit nicht zu verzichten. Glücklicherweise haben wir in unseren Breitengraden ein hohes Mass an Freiheit der Gedanken und Freiheit der Meinungsäusserung.* Entgegen der Auffassung einiger, die gerade besonders laut schreien, darf hier ja jeder seine Meinung zum besten geben. Selbst wenn diese Meinung möglicherweise Menschenleben gefährdet. Spannende Sache.

Allerdings – und das ist wirklich harte Arbeit, die ich da vorhabe – will ich nicht mit der Intention schreiben, andere belehren, missionieren und erziehen zu müssen. Mir gefällt dieser Zug an anderen nicht, und mir gefällt er auch nicht an mir. 

Wenn ich schreibe, dann soll es ein kreativer Ausdruck meiner Gefühle und Gedanken sein. Und wenn sich andere angesprochen fühlen, denen es ähnlich geht, denen ich aus der Seele spreche, dann hat es einen doppelten Nutzen. 

Die Fronten haben sich gebildet

Ich sehe es ein, nach monatelangen Kämpfen in mir selbst und mit anderen – in Worten natürlich 😉 : Die Fronten haben sich gebildet. Man wird niemanden mehr überzeugen können und es ist auch nicht meine Aufgabe zu überzeugen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, der erstens vergebens und zweitens auch ungerecht ist, weil ich mich in dem Fall über andere erhebe, mich als weiser und überlegener betrachte. Aber auch ich mache Fehler und kann mich irren. 

Seelenfrieden

Die Corona-Krise lehrt mich noch eines: Meinen Seelenfrieden erlebe ich, wenn ich mich auf mich selbst und mein nahes Umfeld konzentriere: Was tut mir heute gut? Was macht mir Freude? Wie fühlt sich mein Körper gerade an und was schätze ich an ihm? Wie fühlt sich mein Partner? Wann habe ich ihm zuletzt gesagt, wie sehr ich IHN schätze? Was brauchen meine Tiere?

Ich bin realistisch: Es wird mir trotzdem wieder passieren, dass ich andere missionieren und überzeugen möchte. Wenn es mir allerdings immer öfter auch bewusst wird, gibt es eine Chance, dass sich das irgendwann legen wird. Und bis dahin: Bitte verzeiht mir, wenn es wieder durchbricht 😉

*Leider verschwindet immer mehr die Nutzung des Rechts auf MeinungsBILDUNG. Sich eine Meinung bilden, ist dann doch etwas anderes, als einfach einen Artikel, den Post eines anderen auf Facebook oder ein Foto mit einem Spruch zu lesen und diesen ohne viel zu überlegen gleich weiter zu teilen. Eine Meinung habe ich mir nicht gebildet, wenn ich etwas lese, was meinem Weltbild entspricht und dann dazu stehe und dies teile. Eine Meinung bilde ich mir durch viel Nachforschungsarbeit und zwar auch dort, wo meine Weltsicht nicht vertreten wird. Erst nach dem Studieren sehr vieler Aspekte, Sichtweisen und Meinungen UND dem Zugeständnis, dass ich trotzdem vielleicht noch keine wirkliche Ahnung in dem Thema habe oder sogar meinen Standpunkt von Zeit zu Zeit revidieren muss, kann ich sagen, ich BILDE mir eine Meinung. Und schön wäre es, wenn man nach Bildung der Meinung noch einen kleinen Spielraum offenhalten könnte, dafür, dass auch der Gegenüber recht haben könnte. Und dass mein eigenes komplettes Weltbild falsch sein könnte. Könnte.

Zitate und Sprüche nataliesdiary
Zitate Sprüche motivierend inspirierend

2 Comments

  • Ash-Li

    Ja, Corona fördert die bereits bestehenden Spaltungen ans Tageslicht. Aber Corona verbindet auch. Bei den Spaltungen haben die Menschen die Möglichkeit, sich ihrer bewusst zu werden und sie zu kitten. – Also eher eine “Win-win-Situation”. So sehe ich die Corona-Geschichte.

    Was das “Missionieren” betrifft… 😀 😀 😀 Wer von uns macht das nicht einmal, vor allem, wenn man so fantastisch darin bei den ZJ geschult wurde? Ja, und wenn dann noch ein Thema dazu kommt, für das man eh glüht, dann kann es passieren, das man sich nicht mehr wirklich stoppen kann. Wenn das passiert – ist doch auch nicht soooo schlimm. Davon geht die Welt nicht unter. Man sollte diese Dinge bei sich nicht so ernst nehmen aber versuchen, es beim nächsten Mal anders zu machen.

    Schönes Wochenende an alle! 🙂

  • Margit Ricarda Rolf

    Moin Natalie,

    du bist erleuchtet. Wieder mal. Das ist immer ein spannender Augenblick.

    Für Karl-Peter und mich ist das ein ständiger Spruch, der uns seit Jahrzehnten begleitet.

    Du liest etwas, siehst einen Film, kommst zu einer neuen Erkenntnis, veränderst deine Sichtweise – und scheinbar plötzlich – bist du wieder einmal erleuchtet. Wie ein kleines Kind kletterst du aus deinem Kinderbettchen und stellst fest, das es in einem Zimmer steht. Dann entdeckst du die Wohnung, deine Straße deine Stadt – und jedes Mal bist du sicher, jetzt bist du erleuchtet. Du hast dein Dasein verstanden. Bis zum nächsten Mal.

    Karl-Peter hat den Begriff der Gleich=Gültigkeit geprägt. Das finde ich sehr hilfreich. Wenn wir verstehen, dass jede Erleuchtung nicht mehr ist, als der jeweilige augenblickliche Erkenntnisstand und wir uns vergegenwärtigen, dass wir womöglich morgen genau vom Gegenteil überzeugt sein könnten, weil wir einen neuen Erkenntnisstand erreicht haben (und wir uns womöglich über den von gestern schämen), dann führt das zu mehr Demut und wir beißen uns vielleicht eher die Zunge ab, als andere missionieren zu wollen, denn wie die Zeitung von gestern, hat sich das vielleicht morgen schon überholt.

    Liebe Grüße
    Ricarda

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Entdecke mehr von Natalies Diary

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen