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Von “Pionier” zu “abtrünnig” – meine glorreiche Karriere

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Ich war ja schon von klein auf voll dabei und stellte mir vor, dass ich eines Tages eine «Missionarin» werden würde, die zusammen mit ihrem vorbildlich theokratischen Ehemann in fremden Ländern den armen geknechteten Menschen die Botschaft über das künftige Gottesreich näher bringen würde. Zumindest musste das Vorrecht “Pionier” in meinem Leben erreicht werden. Von “abtrünnig” also noch keine Spur.

Ausser der Missionarsstellung habe ich bis jetzt nichts in die Richtung erreicht – was mich aber heute wiederum auch sehr dankbar und glücklich macht. Man stelle sich vor, ich hätte seit Jahren keinen «weltlichen» Job mehr, weil ich als Missionarin auf Kosten der Organisation gelebt habe und würde nun aussteigen. Ich hätte NULL Lebensgrundlage. Leider ist genau das einigen Zeugen Jehovas passiert. Eine andere Variante, die ebenfalls existiert:  Einige Zeugen Jehovas steigen aus diesem Grund nicht aus. Sie wissen, dass es ihr wirtschaftliches Ende bedeuten würde.

Ich kann sie gut verstehen.

Die Missionarsstellung und den Karrierewunsch als Missionar oder Pionier, habe ich längst hinter mir gelassen.

Meine Laufbahn war eine ganz andere, obwohl bei mir mit Anfang 20 alles noch recht vielversprechend aussah – zumindest für das Weltbild der Zeugen Jehovas.

Während meiner Teenager-Jahre habe ich meine kostbare Freizeit sehr oft für den sogenannten «Hilfspionier» genutzt. Und das bedeutet, ich setzte im Monat 50 Stunden nur dafür ein, für diese Organisation, die Bibel und Gott Mitglieder zu werben.

Das ganz klare Ziel war für mich zu dieser Zeit: Wenn ich meine Berufslehre abgeschlossen habe, werde ich den «Allgemeinen Pionier» beginnen (90 Stunden pro Monat im Dienste der Organisation). Und das tat ich auch, mit einem halben Jahr Verspätung.

Diese 6 Monate empfinde ich noch heute als eine der schönsten Zeiten meines Lebens.

Ich beschäftigte mich, bevor ich Pionier wurde, mit der Spanischen Sprache und verbrachte einige Wochen allein in der Karibik.

Der Start als Pionier

Braun gebrannt und voller Eifer startete ich im September 1997 mit diesem aussichtsreichen ehrbaren Vorrecht “Allgemeiner Pionier”. Dafür nahm ich extra eine Halbtagsstelle in der Bank an, um auch genügend Zeit für das «Bepredigen» der Menschen zu haben. 

Das ganze Spektakel habe ich dann doch ca. 2,5 Jahre durchgehalten. Mehr oder weniger. Ich wurde immer öfter krank und erreichte die vorgegebene Stundenanzahl kaum. Das verursachte in mir das Gefühl  einer «Looserin» und manövrierte mich im Lauf der Jahre immer mehr in ganz grosse Versagensängste. Ich verfiel ausserdem in ein fast zwanghaftes «Pläne aufstellen und wieder verwerfen», ein Teufelskreis, der mir noch viele viele Jahre zu schaffen machte. Denn dadurch pflegte ich immer wieder das Gefühl des Versagens und der «Looserin» in mir. Nein, ich bin kein Mensch, der Pläne und Ziele diszipliniert verfolgt und umsetzt. Das schaffe ich für einige Wochen und dann tritt an diese Stelle das genaue Gegenteil: Ich tue nichts mehr und werfe alles hin.

Das Doppelleben – Ein Paralleleben neben dem Pionier

Damals meinte ich noch, dass ich mit all den Plänen, die zum Teil in den Publikationen als Orientierung abgedruckt waren, ein geordnetes, christliches, vorbildliches Leben führen könnte. 

Immer wenn mir das wieder nicht gelang, brauchte ich von anderer Seite Bestätigung. Die holte ich mir in einer Form, die alles andere als Zeugen Jehovas – like war: Durch Flirten (und noch mehr) mit Männern. Begegnete ich einem Mann, der auf mich stand und das offen zeigte, hatte ich das Gefühl von «Lebendigkeit» – ein klarer Kontrast zu den starren Vorgaben und Regeln der Organisation. 

Und für einen Moment hatte ich wieder das Gefühl, nicht diese “Looserin” zu sein, das ich durch das Nichterreichen der Stundenanzahl hatte.

Das durfte natürlich keiner wissen. Und deshalb führte ich immer mal wieder ein Doppelleben, das mir aber (das weiss ich heute) half, diesen unmenschlichen Pionier – Dienst für die Organisation erträglicher zu machen und das ganze seelisch zu überleben.

Das Ältesten-Komitee

Als ich auf der Pionierschule war (ein 10-tägiges Vollprogramm von morgens bis in die Nacht hinein, welches alle Pioniere, die diesen Dienst mindestens ein Jahr durchhielten, geniessen durften) hatte ich gleichzeitig einen «weltlichen» Freund, mit dem ich ganz furchtbar unkeusche Dinge trieb. Nach der Pionierschule hatte ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich sofort mit ihm Schluss machte und einige Monate später zu den Ältesten der Gemeinde rannte, um ihnen meine «Sünde» zu berichten und vor Gott wieder ein reines Gewissen zu haben. 

Diese demütigenden Gespräche mit den Ältesten wiederholten sich in regelmässigen, grösseren Abständen, denn ich konnte die Finger einfach nicht vom anderen Geschlecht lassen.

Was diese Gespräche für mich bedeuteten und wie sie mir komplett meine Würde entzogen, werde ich ausführlich in meinem Buch berichten, das ich gerade verfasse.

Und fort war das “Vorrecht” Pionier zu sein

Auf dieses Gespräch hin, welches ich nach der Pionierschule mit 2 Ältesten führte, legten sie mir nahe, dieses «Vorrecht» abzugeben, da ich kein Vorbild mehr wäre. Ich tat dies schweren Herzens und verfiel in eine Art Depression, da das, wofür ich schon als kleines Mädchen schwärmte, wieder in unerreichbare Ferne rückte. Nach einiger Zeit erholte ich mich wieder so weit, dass ich immer wieder den Hilfspionierdienst durchführte und irgendwann dann auch wieder Allgemeiner Pionier wurde. Vielleicht könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich es nicht lange aushielt – diese «Selbstkasteiung», dieses «sich selbst von jeglicher Lebendigkeit abschneiden und starren Regeln und Vorgaben folgen». 

Von Zeit zu Zeit, wenn ich es energiemässig irgendwie aufbringen konnte, legte ich dennoch immer wieder mal einen Hilfspionier-Monat ein. Irgendwann reichte die Kraft aber auch hierfür nicht mehr aus.

Jahre vor meinem offiziellen Ausstieg, legte ich langsam und Schritt für Schritt alles an «Vorrechten» ab, die man in dieser Organisation haben kann.

Der langsame Weg in die Abtrünnigkeit

Ich gab kaum noch Antworten/Kommentare in den wöchentlichen Versammlungen. Nach einem Versammlungswechsel liess ich mich nicht mal mehr in die «Predigtdienstschule» eintragen.  (eine Schule, in der man alle paar Wochen ein Bibel-Gespräch ausarbeiten und nachspielen sollte, wie man sie im Haus-zu-Haus-Dienst erleben könnte).  Und ab diesem Zeitpunkt gab ich dann auch gar keine Kommentare mehr in der Versammlung ab. Von da an sass ich eigentlich nur noch in der letzten Reihe, um nicht grossartig aufzufallen. Oder ich kam und ging sehr knapp um irgendwelchen Gesprächen mit meinen Glaubensbrüdern aus dem Weg zu gehen. 

Der Tiefpunkt war wohl, als ich auf dem monatlichen Berichtszettel Stunden angab, die ich überhaupt nie geleistet hatte.

Irgendwann fing ich an nachzuforschen, was im Internet denn so über die Zeugen Jehovas steht. Anfangs tat ich dies noch mit klopfendem Herzen, denn ich machte etwas, was von den Zeugen Jehovas aufs schärfste verurteilt wird: Ich beschäftigte mich mit sogenannten «Abtrünnigen». Diese Kategorie von Mensch (ein vom Glauben abgefallener, der auch noch öffentlich über seine Erlebnisse und Gedanken spricht) ist für die Organisation der Zeugen Jehovas eine der untersten und verachtenswertesten.

Mir wurde innerhalb von 2 Wochen intensivstes Lesen von Artikeln und Ansehen von Videos klar, dass ich dieser Organisation den Rücken ein für alle mal kehren musste. Vor allem um mich selbst wieder zu finden und ein lebenswertes Leben führen zu können. 

Der Ausstieg und Kontaktabbruch

Erst ein Jahr später wagte ich den Schritt, einen Brief an die Ältesten der Versammlung zu schreiben, in dem ich erklärte, dass und warum ich mich nicht mehr als Zeuge Jehovas betrachte. 

Ich dachte und hoffte inständig, dass meine Familie die Vorgaben der Organisation, in so einem Fall den Kontakt mit mir abzubrechen, nicht umsetzen würde. Aber sie tat es.

Meine Schwestern, meine Eltern, sie allesamt sahen in mir nun eine vom Satan beherrschte Person, eine Abtrünnige, eine die es nicht verdient hat, weiterhin geliebt zu werden.

So versuchte ich so einiges, um ihnen meinen Standpunkt klar zu machen und weiter Kontakt zu halten. Vergeblich. Ich war abgeschrieben und «dem Satan übergeben worden». Das verursachte in mir ein Gefühlschaos und ein seelisches Auf- und Ab sondersgleichen. Von der Schockstarre, über Depression, Wut und Trauer, bis zu überwiegend sinnlosen Vergebungsritualen war alles in wiederkehrenden Mustern dabei.

Ich ging an die Öffentlichkeit und war nun “besonders extrem” abtrünnig

Irgendwann hatte ich den Mut öffentlich über all das zu sprechen. Es war einige Zeit nachdem mein Mann bereits seine eigene schmerzhafte Geschichte in mehreren grossen Tageszeitungen der Schweiz erzählte. Ich musste den Schmerz herauslassen und bekam auf mein erstes Video zu meinem Ausstieg unglaublich viel Feedback von Aussteigern, Ex-Zeugen Jehovas und anderen Gruppierungen. Dann redete ich mehr darüber, und mehr und mehr. Ich konnte einfach nicht anders, denn ich hatte eine Möglichkeit gefunden meinen Schmerz zu verarbeiten, zu teilen und damit auch noch anderen aus der Seele zu sprechen. 

Bereits mit meinem aktiven Lossagen von der Organisation Jehovas manövrierte ich mich in die Menschen-Kategorie «Abtrünniger». Denn ich ging nicht einfach nur, weil ich die Regeln nicht einhalten konnte, sondern weil ich diese Organisation nicht mehr als von Gott geleitet ansah. Das ist wesentlich schlimmer, als wegen der «Sex-Sünde» ausgeschlossen zu werden (die meisten Ausschlüsse finden übrigens wegen dieser «Sex-Sünde» statt). 

Durch mein öffentliches Reden über die Zeugen Jehovas bin ich allerdings nochmal ein Stück tiefer gefallen und habe in den Augen der Zeugen Jehovas wohl schon die «unvergebbare Sünde» begangen.  Und genau damit endet meine glorreiche Karriere bei und mit den Zeugen Jehovas. Denn einen anderen Status werde und will ich dort wohl nie wieder erlangen.

4 Comments

  • Margit Ricarda Rolf

    Moin Natalie,
    du beantwortest mit diesem Artikel Fragen, die ich mir als Gefischte seit vielen Jahren stelle.

    Wie kann es sein, dass ein Zeuge Jehovas ein Doppelleben führt und glaubt, Jehova würde es nicht merken? Das beweist doch wohl nur, dass er nicht an Jehova glaubt.
    Wie kann es sein, dass jemand Stunden in den Berichtzettel schreibt, die er nie geleistet hat?
    Wie kann ein Aussteiger glauben, ausgerechnet seine Familie würde den Kontakt nicht abbrechen?

    Danke für den Einblick, den du mir gibst.

    • Natalie

      Liebe Margit
      Ja, ich komme selbst erst Stück für Stück dahinter, warum ich was gemacht habe. Dank meiner fast 30 Jahre Tagebuchaufzeichnungen, die ich in den letzten Monaten durchgewälzt habe…

  • Vanessa

    Liebe Natalie
    Bei mir fand dieses ‘Doppelleben’ in mir drin statt. Lebte ich jahrelang und mit Überzeugung nach diesem Glauben (wie du im Pionierdienst), konnte ich meine wachsenden Zweifel nicht äussern. Sicher versuchte ich sachte, über diese zu sprechen. Mir wurde dann jeweils klar gemacht, dass ich mehr Vertrauen haben musste. Dies könne ich durch Gebet und Demut erreichen. Ich empfand/empfinde diese Antwort als arrogant. Also hörte ich auf, über meine Zweifel zu sprechen.
    Mein ‘Doppelleben’ hatte nichts mit Unglaube zu tun, sondern mit dem Wunsch, zu verstehen. Dieses Bedürfnis konnte jedoch nicht gestillt werden…die Folge davon war, dass ich mich innerlich immer mehr distanzierte.
    Heute Erlebe ich wie du die Ächtung, Verurteilung und die Abscheu meiner mich liebenden Familie (sie wollen mir dadurch tatsächlich ihre Liebe zeigen!).
    Es gibt bestimmt viele getrennte und sogar zerstrittene Familien. Unsere wurden von oben herab, durch Überzeugung und blindem Glaube getrennt.
    Ich wünsche dir jedenfalls viel Kraft und trotz Allem Freude auf deinem weiteren Weg. Courage!

    • Natalie

      Liebe Vanessa
      Vielen Dank für Deine Gedanken und Erlebnisse dazu. Das empfinde ich allerdings auch als überheblich, wie man da mit Dir umging. Es tut mir so leid, dass Du diese Ächtung durch Deine Familie ebenfalls erleben musst. Ich bin dankbar, dass wir uns austauschen können und dass es immer mehr werden, die öffentlich über dieses Mobbing von Seiten der Zeugen Jehovas sprechen. So hat man nicht mehr das Gefühl, alleine dazustehen mit dieser unmenschlichen und schmerzlichen Erfahrung. Ich wünsche auch Dir ganz viel Kraft und Freude. Alles Liebe

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