Gestatten: Ich bin schwach! Der Mythos vom starken Menschen
Manchmal fühle ich mich einsam. Als Mensch, der vor allem auch beruflich für andere da ist, motiviert und Wege zeigt, ist es kein leichtes, einfach mal so über die eigenen schwachen Momente zu sprechen. Der Anspruch an mich selbst, aber auch der Anspruch, den die Welt da draussen zu haben scheint, erdrückt mich zuweilen. Von Menschen, die voran gehen, wird meist erwartet, dass sie 24 Stunden lang Stärke ausstrahlen. Dass sie ihre Schwächen zurückhalten und anderen Sicherheit vermitteln. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, an das sich, egal ob im Internet oder im echten Leben, so viele unbewusst und ganz selbstverständlich halten. Schwach sein, Schwäche offen zeigen – geht gar nicht!
Die eigenen Schwächen, die Momente, in denen wir traurig, wütend, ängstlich, verzweifelt sind mit anderen teilen: Lass das! Wie soll man Dich da je wieder ernst nehmen, Dich als Autorität auf Deinem Gebiet empfinden? Denkst Du auch so?
Schwach sein ist nicht populär
Ich habe für mich entschieden, meine Schwächen und Probleme offen zu kommunizieren, auch wenn mir das bei einigen Menschen Punktabzug gibt (wie mir immer wieder mal als Feedback mitgeteilt wird). Denn das bedeutet für viele einfach immernoch, dass ich damit automatisch schwach bin, wenn ich diese Schwächen zeige und darüber spreche.
Und das ganz besonders in Zeiten der grössten Unsicherheit, wie wir sie jetzt gerade erleben. Keiner weiss so recht, was passiert, wie lange das alles noch geht und wie das wohl endet. Menschen, die jetzt aufstehen und vermeintliche Sicherheit und ein klares Weltbild vermitteln, rennen bei vielen offene Türen ein.
Ich weiss aber auch, dass es eine Menge von Menschen gibt, die sich nur jemandem anvertrauen würden, der selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hat und diese auch mitteilt. Jemand, der wie sie, Schwächen und Probleme hat und sich nicht als Übermensch darstellt, wie das in vielen Kreisen geschieht. Wir alle sind Menschen. Einfach Menschen. Und wenn wir das offen zeigen, schafft genau das am meisten Vertrauen.
Was mich an “starken” Menschen nervt
Weisst Du, was mich oftmals gestört hat, wenn ich bei einem Therapeuten gesessen bin (egal ob Psychotherapeut, Psychiater, Arzt, Heilpraktiker oder whatever)? Dass ich mein ganzes Leben und meine innersten Gedanken und Gefühle ausbreiten sollte und von der Gegenseite kam nichts dergleichen. Ich hätte sicher nicht gewollt, dass der Therapeut mir nun seinerseits seine ganze Lebensgeschichte erzählte oder ständig Sätze einwarf wie «Ja, das ist mir auch passiert. Ja das kenne ich auch.» Das ist natürlich alles andere als hilfreich.
Aber die gefühlte Distanz, das überprofessionelle Verhalten, das fehlende oder nicht sichtbare Mitgefühl und Verständnis, das fehlende Eingeständnis, dass derjenige selbst schon Schwierigkeiten durchmachte und noch heute mit Dingen kämpft – all das führte zu einem hierarchischen Gefälle. Ich war in der Position des Opfers, der andere war der Wohltäter oder die Autorität, die ihr Leben scheinbar im Griff hatte. Der Studierte. Der mit dem wirklichen Wissen.
Nicht so offensichtliche Stärken
Mir gab das kein Gefühl von Stärke und Selbstvertrauen sondern bewirkte, dass ich mich noch mieser, unterlegener und ausgeliefert fühlte. Dass ich das Gefühl bekam, ohne diesen Menschen, geht mein Leben wohl noch mehr den Bach runter. Und ich griff dankbar nach dem Strohhalm, den er mir hinwarf.
Genau das möchte ich persönlich NIEMANDEM vermitteln.
Auf den ersten Blick scheint es vielleicht, dass derjenige sein Leben irgendwie nicht im Griff hat. Aber bei genauerem und vor allem unvoreingenommenem Hinsehen stellt sich oft heraus, dass derjenige Dinge erlebt hat, die manche Menschen sich nicht in den schlimmsten Alpträumen vorstellen möchten. Und dieser Mensch hat sie überlebt. Hat es irgendwie geschafft, heute hier zu stehen und er hat NICHT aufgegeben. Weisst Du, weiss ich, ob wir in ähnlicher Situation das auch geschafft hätten? Ganz ehrlich?
Deshalb tu ich mir auch sehr schwer mit dem medizinischen Begriff «Psychische Störung oder Krankheit». Diese «Störung» war eventuell die Überlebensstrategie dieses Menschen. Ohne diese «Störung» wäre er vor die Hunde gegangen.
Schwach sein ist stark sein
Menschen sind sich oftmals nicht bewusst, was sie bereits geschafft, welche Erfolge sie in ihrem Leben errungen haben. Weil die Definition von Erfolg und «Normal» so oft in ein bestimmtes Schema reinpassen muss. Leider glauben diesen Schwachsinn dann auch sehr viele. Und fühlen sich noch wertloser, weil sie es nicht schaffen so zu sein.
Erst später traf ich auf Menschen, die ihr Herz aufmachten und sich selbst als Mensch zeigten, obwohl sie professionell arbeiteten. Sie zeigten sich schwach, hatten Tränen in den Augen, waren berührt und liessen Emotionen zu. Genau diese Menschen schafften es wiederum, etwas in meinem Inneren zu berühren, anzustossen, zu öffnen, so dass ich die Kraft und die Inspiration fand, Schritte zur Selbsthilfe zu unternehmen.
Sie halfen mir zu sehen, dass ich selbst über unglaubliche Ressourcen zur Problembewältigung verfügte und mir nur wieder selbst vertrauen lernen musste. Genau das gab mir das Gefühl, nicht auf Sicherheit von Aussen angewiesen zu sein, sondern selbst in mir Sicherheit zu kultivieren, unabhängig davon, was da für Lebenskrisen auf mich einstürmten.
Du fühlst Dich schwach? No problem!
Ich spielte auch sehr lange viele Rollen, setzte unglaublich entstellende Masken auf. Nur um anerkannt zu werden, nur um so zu sein, wie andere es für gut heissen, wie die Gesellschaft es für gut heisst, wie bestimmte Gruppen oder Kreise es für gut befinden.
Wenn ich echt bin, dann bin ich nicht nur professionell, businessmässig, politisch korrekt, freundlich, stark und ausgeglichen. Das Bild, das uns da draussen viele von sich selbst vermitteln wollen, ist nicht ganz real. Versuch hinter die Fassade zu blicken.
Nein, ich besitze auch Eigenschaften, die alles andere als «gesellschaftsfähig» sind. Ich bin einsam, wütend, traurig, ungerecht, narzistisch, neidisch, heule wie ein Schlosshund, habe Angst und verhalte mich und rede alles andere als politisch korrekt. Und manchmal fühle ich mich einfach nur schwach.
Das Korsett der angeblichen «Stärke» darf weichen. Zumindest in meinem Leben. Und ich persönlich bevorzuge sehr die Gesellschaft von Menschen, die dieses Korsetts ebenfalls überdrüssig sind.
Zum Weiterlesen:
Warum es wichtig ist, dass Führungspersonen Schwäche zeigen