Gefühle, die ich nicht haben darf!

Gefühle, dich nicht haben durfte – und so konnte ich dagegen angehen: Am besten war es, sich beschäftigt zu halten, jede freie Minute auszufüllen und für die «guten Dinge» einzusetzen, so dass diese falschen Gefühle gar nicht erst an die Oberfläche kommen konnten.

Und tatsächlich, sehr oft und eine ganze Zeit lang klappte das auch mit der Ablenkung. Ich hatte jede freie Minute verplant, ob mit Bibelstudieren, “andere Leute über die Lehren der Zeugen belehren” oder Gesellschaft mit meinen Glaubensbrüdern.

Ich konnte mich sehr gut zusammenreissen, meine Klappe halten, meine wahren Gefühle in Zaum halten. 

Eine Zeitlang, immer nur eine Zeitlang. 

Gefühle suchen sich ein Ventil

Und dann brach wieder etwas aus mir heraus. Ich liess den ganzen Frust und die bösen Ausdrücke in meinen Tagebüchern raus. Oder ich trank Alkohol (nicht zu knapp). Oder ich riss irgendeinen Mann auf, einen «Weltlichen», denn die hatten ja laut der Wachtturm-Organisation sowieso nur eins im Kopf und waren moralischer Morast. Ich betrachtete sie als «weniger wert»  im Gegensatz zu den «tollen» moralisch überlegenen Zeugen Jehovas – Männern. 

Dass ich in dem Moment mit den Gefühlen anderer Menschen spielte, wurde mir erst viele Jahre später bewusst. Aber das können wohl einfach Auswüchse dessen sein, dass man das was man wirklich fühlt, nicht wahrnehmen sollte:

Sei nicht zu wütend. Sei nicht zu traurig. Sei nicht zu überschwenglich. Hier brauchst Du keine Angst haben. Dort solltest Du Angst haben. Du musst Liebe zu Deinen Brüdern empfinden – egal zu wem (selbst wenn Dir der ekelhafte Typ einfach tierisch unangenehm ist). Der Dienst für Gott soll die gefälligst Freude machen. Bitte keine Gefühle für «Weltliche» haben….

War das wirklich so schlimm?

Gerade heute fragte ich mich mal wieder, ob das denn wirklich alles so schlimm und genau so war, wie ich es in Erinnerung habe. Immer wieder kommt dieser Gedanke in mir auf: «Natalie, Du übertreibst masslos. Bei den Zeugen Jehovas war alles ganz harmlos. Das ist wirklich lächerlich, was Du machst. Hab Dich nicht so.»

Und deshalb suchte ich nun gezielt in der Literatur der Zeugen Jehovas, um schwarz auf weiss zu lesen, wie sie es immer beschrieben hatten.

Da ist davon die Rede, dass man seine Gefühle beherrschen muss. Selbstbeherrschung sei das A und O. «Wer es versäumt, sich in Bezug auf seine Gefühle Selbstbeherrschung aufzuerlegen, verliert im Laufe der Zeit auch oft die Selbstbeherrschung in Verbindung mit seinem Handeln.» (https://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/1993604?q=Gefühle&p=par#h=12)

Und dann wird unter anderem die Story von Kain und Abel erwähnt: Kain beherrschte seine Gefühle nicht und ermordete daraufhin Abel. Das kostete ihn auch die Freundschaft mit Gott, denn der wollte ab dem Zeitpunkt nichts mehr von ihm wissen.

Ja, bei solchen Androhungen ist man doch gerne bereit die Gefühle an allen Ecken und Enden zu beherrschen, koste es was es wolle. 

Keine Gefühle – kein Selbstvertrauen

Ich hatte tatsächlich immer diese Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass ich jetzt das was ich gerade fühle, wirklich nicht fühlen durfte, denn sonst würde ein schlimmes Unglück geschehen.

Ich vertraute mir selbst nicht. Was auch wunderbar in die übrigen Lehren der Zeugen passte, denn auf seine Gefühle und sein Herz sollte man auf gar keinen Fall vertrauen. «Das Herz ist verräterischer als sonst irgendetwas» (Die Bibel) und aus der Literatur der Zeugen dann gleich noch: «Auch unser verräterisches Herz könnte unsere gute Reaktion auf Jehovas Anweisungen stören” (https://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/2014606?q=auf+herz+hören&p=par)

Dann schon lieber auf den Verstand hören. Aber auf den bitte auch nicht allzusehr, denn «Vertraue auf Jehova+ mit deinem ganzen Herzen und verlass dich nicht auf deinen eigenen Verstand» (Die Bibel).

Also, Verstand und Gefühl bitte ausschalten und nur da einschalten, wo es zu den Lehren der Bibel und Jehova und den Zeugen Jehovas passt. Falls der Verstand oder das Herz anderer Meinung sein sollten, dann ist ganz eindeutig in meinem System etwas falsch, denn ich bin ja schliesslich unvollkommen.

Diesen beschriebenen Gedankengang einmal eingepflanzt (was sehr einfach funktioniert, wenn man dort aufwächst und diese Erklärungen von klein auf eingetrichtert bekommt), wird es sehr schwer, wahres gesundes Selbstvertrauen aufzubauen, die eigenen Gefühle und  Gedanken ernst zu nehmen und gegebenenfalls Entscheidungen anders zu treffen, als es das Umfeld tut.

Darum verliess ich die Organisation

Gefühle abstellen und anstellen wie es grade gefordert wird, ist eines der ganz grossen Dinge, die mich irgendwann zum Verlassen der Organisation gebracht hatten. Ich konnte das irgendwann einfach nicht mehr. Ich wusste gar nicht mehr wer ich war, was ich wollte und ob ich überhaupt so in Ordnung bin, wie ich bin.

Je mehr ich im Bereich Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung erfuhr, desto weniger konnte ich verstehen, dass ich jahrelang einem sadistischen Gott und seiner noch sadistischeren, manipulativen Organisation hinterhergelaufen war.

Was mich heute freier macht, ist die Tatsache, dass ich fühlen darf, was ich fühle. Dass ich denken darf, was ich denke. Dass alle Gefühle ok sind. Dass nicht gleich der nächste Mord um die Ecke lauert, nur weil ich Wut oder Eifersucht spüre.

Das ist meine Erfahrung der letzten Jahre: Wenn ein Gefühl da sein darf und ich es verstehen statt bekämpfen möchte, dann verliert es oft auch seine gefürchtete Macht. Wut und Rachegelüste allerdings, die permanent unterdrückt und nicht thematisiert oder verstanden werden, weil «man sowas nicht fühlen und nicht denken sollte», können sich ein ganz unangenehmes Ventil suchen und dann vielleicht sogar mal tatsächlich zu einem Mord führen.

Fühlen, egal was.

Denken, egal was. 

Und ich bin trotzdem in Ordnung so wie ich bin.

Ich muss mich nicht mehr verbiegen, ich darf einfach leben und Ich sein.

DANKE.