Natalies Diary
Blick Natalie Barth
Gefühle

Schuldgefühle und Hintergründe – Der BLICK-Artikel

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Nun ist es amtlich. Der Artikel über die Ächtung durch meine Familie erschien am Montag in einer der grossen Tageszeitungen der Schweiz, dem Blick. Und meine Gefühle erfahren wiedermal eine absolute Achterbahnfahrt, inklusive Schuldgefühle. Und nun der Reihe nach.

Vor einigen Wochen kam eine Journalistin des Blick auf mich zu und fragte nach einem Interview. Sie stiess über meine Videos auf mich. Der Anlass war das Schweizer Gerichtsurteil, bei dem eine Sektenberaterin in allen Anlagepunkten freigesprochen wurde, nachdem die Zeugen Jehovas sie verklagt hatten. Seit diesem Urteil darf man ganz legal und ohne Befürchtungen öffentlich äussern, dass Zeugen Jehovas eine Ächtungspraktik haben und damit Mobbing betreiben.

Mehr dazu findest Du in meinem Video, in dem ich das Urteil ganz grob erkläre:

Das Treffen mit der Journalistin vom Blick

Der Blick wollte nun jemanden befragen, der diese Ächtungspraxis am eigenen Leib erfährt. Ich willigte ein und traf mich in Begleitung meines Mannes mit der Journalistin. 

Bereits am nächsten Tag erhielt ich von ihr die Passagen, die mich betrafen, per Email. Als ich diese durchlas, erlebte ich etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich fühlte mich traurig und schuldig. Wenn ich selbst erzähle, dass meine Familie den Kontakt mit mir abgebrochen hat oder mich als dem Satan verschrieben betrachtet, dann ist das nochmal etwas anderes, als es schwarz auf weiss von einer fremden Person formuliert zu sehen, die ÜBER mich schreibt. 

Diese Gefühle legten sich nach ein paar Tagen wieder und nachdem einige Wochen nichts passierte, dachte ich, der Artikel wird gar nicht mehr veröffentlicht. Ich muss gestehen, dass mich dieser Gedanke, dass alles im Sand verlaufen würde, eher beruhigte und erleichterte. 

Der Artikel erscheint

Am Montag erhielt ich über Facebook eine Nachricht einer mir unbekannten Person: «Gerade im Blick deinen Bericht über die Zeugen Jehovas gelesen. Viel Kraft und Weisheit auf deinem weiteren Lebensweg.»

Das machte mich in dem Moment doch wesentlich wacher, als der doppelte Espresso zuvor. Ich ging sofort auf die Webseite des Blicks und erlebte den zweiten Schock: Der Beitrag mit einem Foto von Micha und mir war gleich der erste, der Starseitenartikel. Titel: «Sie halten uns für satanhörige Zombies.» Das liess dann gleich mein eigenes Blut in den Adern gefrieren.

Nun war es also raus. Sogar mit einem extra Video. Ich wusste nicht, welches Material verwendet werden würde und welches nicht. Es war also für mich selbst eine Überraschung, was ich las und sah. Ich teilte den Beitrag, fühlte aber zwei Herzen in meiner Brust schlagen. Einerseits war ich froh, dass der Artikel nun doch endlich draussen war und hoffentlich einige Menschen erreichte. Andererseits nahmen meine Schuldgefühle und die Traurigkeit über die ganze Situation wieder zu.

Die Reaktionen

Dann trudelten die ersten Nachrichten ein: Über Facebook, Instagram, Email, Linked-In, WhatsApp etc. Im Grunde immer mit einem ähnlichen Tenor: «Danke für Deinen Mut.» «Viel Kraft für Deinen Weg.» «Du hast das beste getan, was Du tun konntest.»  «Ich bin selbst ausgestiegen und habe auch all das erlebt.» «Ich hoffe Du kannst irgendwann alles hinter Dir lassen.» usw. Diese Nachrichten bestärkten mich darin, das richtige getan zu haben.

Es waren auch ein, zwei negative Reaktionen dabei. Zum Beispiel, dass ich Scheisse erzählen würde und dass der Grund, warum meine Familie mit mir brach, bestimmt ein anderer sein müsse. Oder dass alles unglaubwürdig wäre, weil im Bekanntenkreis Zeugen Jehovas sind und die wären ganz anders – friedlich und liebenswürdig.

Schuldgefühle kommen zurück

Nach 2 Tagen überwogen in meinem Inneren wieder die Schuldgefühle. Ich empfand mich wie ein Verräter, der ein Familiengeheimnis ausplauderte. «Was wenn meine Mutter und mein Vater den Artikel lesen und dann einen Herzinfarkt bekommen? Was, wenn ich einfach übertrieben habe und das ganze viel harmloser ist, als ich es öffentlich schilderte? Ich muss ein mieser Mensch sein. Hätte ich es doch nicht gemacht! Vielleicht habe ich mir den Zugang zu meinen Eltern nun komplett verbaut.»

Es brauchte eine Weile, bis ich mein Denken wieder gerade rücken konnte. Im Grunde verhielt ich mich wie jemand, der das Stockholm-Syndrom hat und verkehrte die Täter-Opfer-Rolle. Nicht ich hatte mir ausgesucht, dass ich geächtet werde, dass ich als Zombie und satanshörig bezeichnet werde, sondern meine Familie und mein ganzes früheres Umfeld tat dies.

Das einzige, was ich mir aussuchte, war ein eigenständiges Leben. Und ich musste nun einfach mit diesem Umstand und den Folgen zurechtkommen. Es interessierte sich niemand von ihnen dafür, dass ich Schlafstörungen und Panikattacken bekam. Dass ich kaum noch Energie hatte, meinen Alltag zu bewältigen. Dass ich einen Teil von mir abspaltete, um den Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen. Hätten sie es gewusst, wäre ihre Reaktion gewesen: «Gut so. Dann fühlt sie, dass sie was falsch macht und kommt wieder zurück zu der Organisation.» und «Kein Wunder, dass es ihr so geht. Sie ist ja auch fern von Gott, in der Welt Satans. Da muss man eben leiden.»

Warum ich öffentlich über die Ächtung spreche

Dass ich offen darüber spreche, wie man mit mir bei den Zeugen Jehovas und speziell auch in meiner Familie umging, ist kein persönlicher Racheakt, wie es mir von einigen immer mal wieder unterstellt wird. Es ist eher ein Befreiungsschlag für mich, damit der Schmerz ein Ventil und einen Ausdruck bekommt und sich nicht in meine Eingeweide frisst.

Und dann treibt mich noch ein ganz anderer Gedanke an. Wenn nur ich so eine Behandlung erfahren würde oder es einfach eine Ausnahmeerscheinug wäre, dann glaube ich nicht mal, dass ich öffentlich drüber sprechen würde. Da diese Ächtungspolitik allerdings ein institutionelles Problem ist und im grossen Stil stattfindet, ist es an der Zeit genau das aufzudecken. Es leiden mehr Menschen darunter, als der Öffentlichkeit bewusst ist. 

Die meisten Opfer können nicht darüber sprechen oder brauchen Jahre dafür, denn sie fühlen sich oftmals schuldig. Schliesslich haben sie ja den Schritt gemacht, aus der Organisation zu gehen oder haben sich gegen die Regeln der Bibel verhalten und wurden ihrer Meinung nach zu Recht ausgeschlossen. Diese Schuldgefühle darf man nicht unterschätzen. Auch bei mir tauchten sie nun im Rahmen dieses Blick-Artikels wieder auf. Ich fühlte mich wie ein «Nestbeschmutzer».

Warum Schuldgefühle hier keinen Platz haben

Es ist wichtig, dass ich, das wir uns immer wieder eine Sache deutlich bewusst vor Augen führen:

Nicht derjenige ist schuldig, der ein Verbrechen aufdeckt. Sondern derjenige, der das Verbrechen verübt hat.

Und nachdem das als Tatsache feststeht, nachdem ich auch selbst anerkannt habe, dass ich Opfer wurde in dieser Sache, ist der nächste Schritt erst möglich. Der essentiellste zur Selbstbefreiung:

Ich muss heute kein Opfer mehr sein. Ich darf den Status «Opfer» ablegen und zum Schöpfer meines eigenen Lebens werden.

Denn ich habe mehr Stärken als ich je glaubte, allein dadurch, dass ich durch diesen Schmerz durchging und mich selbst für ein freies Leben entschied. Ich hatte die Kraft, dieser menschenverachtenden Organisation den Rücken zu kehren und meinen eigenen Weg zu wählen. Ich beuge mich dem Druck nicht mehr.

Schuldgefühle verschwinden nicht von heute auf morgen

Dieses Fühlen, ob man Opfer, Täter oder endlich Schöpfer ist, empfinde ich wie ein «Sich drehen im Kreis» mit der Tendenz immer mehr aus dem Kreislauf auszubrechen oder ihn zu verschieben in Richtung wirlich freies und selbstbestimmtes Leben. Manchmal glauben wir, alles ändert sich von heute auf morgen, wenn wir uns einmal bewusst gemacht haben, dass wir heute keine Opfer mehr sind. Aber das ist utopisch. Ich empfinde es eher so:

Zwei Schritte nach vorne, ein Schritt zurück. 

Drei Schritte nach vorne, einer zurück. 

Vier Schritte nach vorne und vier zurück. 

Bei der letzten “vier Schritten zurück” haben wir vielleicht das Gefühl, dass alles umsonst war, dass wir nie aus diesem Opferdasein rauskommen und unser Leben in den Griff bekommen. Vier vor und vier zurück bedeutet, wir fangen wieder am Anfang an. Oder nicht? Du hast vergessen, dass Du mit all dem Vor und zurück insgesamt 9 Schritte nach vorne gemacht hast, aber nur 6 Schritte zurück. Das heisst, Du fängst nicht bei Null an. Sondern bei 3 Schritte weiter. 

Stärke ohne Schuldgefühle

Dieses Beispiel hilft mir, zu sehen, wie es mir heute im Vergleich zu einigen Jahren davor geht. Was ich bereits alles geschafft habe. Wieviel an Schuldgefühlen ich auch schon ablegte und was ich bereits verarbeitete.

So kann ich nun auch meine Schuldgefühle in Bezug auf die Veröffentlichung des Blick-Artikels wieder ablegen und weiss, bei all den positiven Reaktionen, dass ich richtig gehandelt habe.

Und Dir wünsche ich das gleiche und viel Kraft, falls Du ebenfalls unter Schuldgefühlen zu leiden hast, weil Du diesen Schritt in die Freiheit gegangen bist (eventuell sogar raus aus einer Missbrauchssituation). Kein Mensch weiss, was Du bereits hinter Dir hast. Du hast mehr Stärke in Dir, als Dir vielleicht bewusst ist.

Mein Video zu den Hintergründen
Zitat Maske und Stärke
Mehr Zitate findest Du hier

4 Comments

  • Ash-Li

    Ich kann mir diese “Achterbahnfahrt der Gefühle” gut vorstellen, liebe Nathalie… Einfach schrecklich! Aber es geschieht ja auch nichts ohne Grund. Ich meine, der “Blick” ist in etwa die “Bild”-Zeitung der Schweiz. Da wird natürlich dann auch noch dramatisiert. Das kennen wir ja. ABER: Manchmal braucht man ein “Mehr” an Rütteln an der eigenen Vergangenheit, um diese Dinge, die einfach weg gehören, auch wirklich entlassen zu können. Das kann einen dann schon erst mal an den Rand des Erträglichen bringen. – Hab’ Geduld mit Dir, liebe Nathalie! Es wird sich alles zum Guten wenden. ALLES! Davon bin ich überzeugt. Und vergiss bitte nie, welch ein wert- und wundervoller Mensch Du bist. – Danke für Deine Offenheit uns gegenüber. 🙂

    • Natalie

      Danke liebe Ash-li für Deine Lieben Worte. Ja, das Wachrütteln braucht es, das glaube ich auch. Der ganze Artikel war allerdings gar nicht so überdramatisch geschrieben, sondern recht ausgewogen. Die Überschrift war halt etwas reisserisch. Aber leider ist das ja auch noch tatsächlich genau so gewesen, dass ich als Zombie und satanshörig bezeichnet wurde. Also nicht mal das ist übertrieben…
      Ich bin sehr dankbar, die Journalistin war wirklich sehr einfühlsam und toll!
      Alles Liebe für Dich

  • Margit Ricarda Rolf

    Moin Natalie,

    ich habe es wirklich deutlich leichter, weil ich nicht in Schuld denke, sondern in Ursache und Wirkung. Schon mein Vater lehrte mich: “Unfälle passieren nicht, sie werden verursacht.” Er hat bei der gesetzlichen Unfallversicherung gearbeitet.

    Mit der Schuldfrage wurde ich erst bei den Zeugen konfrontiert. Sprüche wie “keiner ist ohne Sünde” oder “Jesus starb für unsere Sünden”, das blöde Beispiel mit der Kuchenform, die eine Delle hat und deshalb keine anständigen Kuchen hervorbringen kann, sondern nur fehlerhafte, es hat mir nie wirklich eingeleuchtet. Das Loskaufsopfer, ich habe es zwar anderen erklärt, wie es im Buch steht, aber selbst bei Luther hat es mich angewidert, als er sich geißelte, um sich würdig zu fühlen vor Gott.

    Ich war immer davon überzeugt, dass Gott mich liebt und seine Engel mich begleiten. So bin ich sogar allein in dunkle Hinterhöfe gegangen, fest überzeugt, dass mir dort nichts passieren kann. Auch naiv, ich weiß.

    Nach meinem Ausstieg habe ich das noch mehr verinnerlicht. Laut Bibel fragte Jesus: “Was ist leichter zu sagen? Deine Sünden sind dir vergeben oder heb dein Tragbett auf und geh?” Für mich war Jesus in diesem sinne der erste Heilpraktiker, also jemand der den Zusammenhang zwischen Krankheit und Schuldgefühl verstanden hat (wenn er denn so tatsächlich gelebt hat).

    In meinem Büro hängt ein Schild: “Schuld abladen verboten”. Das hat mir eine Kundin geschenkt, die ich als Mobbingberaterin betreut habe. Ich zeige es oft in meinen Beratungen.

    Gerade im deutschsprachigen Raum kranken wir daran, dass man uns immer schuldig spricht. Mit mir nicht!

    Mit dir auch nicht! Das wünsche ich dir.

    Viele Grüße
    Ricarda

    • Natalie

      Liebe Ricarda
      Danke für Deine vielen und sehr zum Nachdenken anregenden Kommentare! Wie ich Dir schon persönlich geschrieben habe, muss ich dieses Schild “Schuld ablagen verboten” unbedingt auch haben :-)))) Du hast eine gesunde Einstellung zu all dem! Diese Schuld, die wir Deutschen oftmals schon allein wegen unserer Geschichte spüren, finde ich unnötig. Ich bin nicht für das verantwortlich, was meine Vorfahren taten. Ich kann höchstens aus ihren Fehlern lernen. Das ist aber auch schon alles. Es hilft schon recht viel, wenn man sich mal bewusst macht, woher diese permanenten Schuldgefühle kommen. Nicht nur aus unserer Geschichte als Deutsche, sondern auch aus der Zeit, als die Kirche anfing dieses Schuldkonzept zu verbreiten und damit Menschen gefügig zu machen. Die Zeugen Jehovas führen das fort, was die Kirche im Mittelalter hardcore praktizierte.
      Befreien wir uns von dieser Schuld, überhaupt vom Schuldkonzept, und lassen uns weder durch uns selbst, noch durch andere eine Schuld einreden!

      Danke und liebe Grüsse nach Hamburg

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