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Die Zeugen Jehovas und meine Träume

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Ein Traum, der das ganze Dilemma zeigt, den der Ausstieg bei den Zeugen Jehovas mit sich bringt. Und wie sehr sich die Situation seit ein paar Jahren nochmals verschärft hat.

Ich bin gerade dabei das Interview mit einem ehemaligen Zeugen Jehovas zu schneiden, um es dann auf YouTube hochzuladen. Hierbei kam ich also an eine Stelle des Gesprächs, in der mein Interviewpartner etwas bestimmtes erzählte. Seine Eltern pflegten nach seinem Ausstieg noch weiterhin Kontakt mit ihm. Sie klammerten lediglich das Thema «Anbetung, Religion» aus.

Zeugen Jehovas und der Kontaktabbruch

Genau so wurde bei den Zeugen Jehovas auch eine Zeitlang einmal mit dem Ausschluss aus der Gemeinde umgegangen. Man ächtete diejenigen, die nicht mehr zu dieser Gruppe gehörten, zog es aber bei der eigenen Familie nicht ganz so hart durch. So durfte man also mit einem Familienmitglied, das kein Zeuge Jehovas mehr war, weiterhin Kontakt haben. Man musste aber vermeiden, über «geistige» Dinge mit diesem zu sprechen.

Natürlich waren aber auch schon immer gegenteilige, widersprüchliche Anweisungen vorhanden. Und zwar, dass man den Kontakt komplett vermeiden sollte, ausser es wäre irgendein ein Notfall eingetreten. Es gab Eltern, die sich an das eine hielten und andere, die die Hardcore-Anweisung umsetzten.

Eine Party mit lauter Zeugen Jehovas

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Nun zu meinem Traum: Wiedereinmal kam ein Familienmitglied in diesem vor (wie so oft in den letzten Monaten) – meine Schwester. Ich traf auf einer Party ein und wusste noch nicht, dass alle davon aktive Zeugen Jehovas waren. Meine Schwester, die ebenfalls da war, würdigte mich keines Blickes und war wie eine Fremde. Verschiedene andere Partygäste sprachen jedoch ganz normal mit mir.

Bis zu dem Zeitpunkt, als plötzlich das Thema «Religion» angeschnitten wurde. Jemand wand ein: «Darüber können wir mit Dir nicht sprechen, denn Du bist ausgeschlossen.». Als ich erstaunt fragte: « Aber sonst könnt Ihr über alles mit mir sprechen? Ganz normal?» wurde mir erwidert: «Natürlich. Nur eben über die Anbetung nicht,  da müssen wir Dich ausklammern.». Daraufhin fiel ich dem Partygast um den Hals und heulte. Ich bedankte mich von Herzen, dass er so menschlich mit mir umging, da meine eigene Familie das nicht mit mir tun würde.

Das Dilemma eines Ex- Zeugen Jehovas

Genau das ist das Dilemma, in dem viele Ex-Zeugen Jehovas stecken. Der Kontaktabbruch durch die Familie, die noch aktiv in dieser Gruppe dabei ist. Inzwischen wird vermehrt Wert darauf gelegt, mit Ausgeschlossenen oder Aussteigern keinerlei Kontakt mehr zu pflegen, sogar wenn es sich um die eigene Familie handelt. (Quelle: Wachtturm Oktober 2017 Seite 16, Absatz 19 und Tagestext vom 14. Januar 2019; wichtige Information dazu am Ende des Artikels!*). Daher gibt es auch immer mehr Zeugen Jehovas, die genau diese Hardcore-Variante in ihrem Leben umsetzen.  

Meiner Beobachtung nach, wird dies besonders seit 2016 betont, als auf einem Kongress ein Video gezeigt wurde, das beispielhaft für den Umgang mit Ausgeschlossenen sein sollte. In diesem Video war eine junge Frau zu sehen, die ausgeschlossen wurde. Ihre Eltern brachen daraufhin den Kontakt rigoros und komplett ab. Als das Mädchen einmal anrief und die Mutter die Nummer auf ihrem Handy sah, drückte sie den Anruf weg bzw. ging nicht hin, denn «sie wollte Jehova treu und loyal ergeben sein». 

Was wäre gewesen, wenn die junge Frau in einer Notsituation steckte und dieser Anruf ein Hilfe-Schrei war?

Die Heilung des Schmerzes braucht Zeit

Immerwieder einmal überkommt mich ein wütendes und dann wieder ein trauriges Gefühl, wenn ich an den rigorosen Kontaktabbruch denke. Es ist nicht so, dass ich keine Freunde oder kein soziales Umfeld habe. Leider müssen einige ehemalige Zeugen Jehovas von einem auf den anderen Tag erleben, dass ihnen alles wegbricht. So geht es mir zum Glück nicht. Ich hatte mir bereits vor meinem Ausstieg neue Kontakte gesucht.

Und trotzdem ist dieser Schmerz immerwieder einmal da und wird in meinen Träumen verarbeitet. 

Anfangs wollte ich diesen Schmerz schnellstmöglich bekämpfen. Ich hatte viel zu früh mit Vergebungs- und Ablöseritualen begonnen. Ich verstand erst später, dass alles seine Zeit braucht und dass Wut und Trauer ersteinmal angenommen und verarbeitet werden müssen. Und dies braucht Zeit. Zeit, die ich dem ganzen nun gebe. 

Das Schöne an dieser Geschichte

Das Schöne an diesem ganzen Prozess ist, dass ich weiss, ich bin nicht alleine. Es gibt Menschen, die mir um ein gutes Stück voraus sind und mir ihre Erfahrungen und Möglichkeiten der Verarbeitung und Loslösung mitteilen. Wenn man sich für Neues öffnet, erscheinen plötzlich ganz neue Ideen und Inspirationen für den eigenen Weg, die früher vielleicht total abwegig waren.

Und es gibt Menschen, denen ich wiederum einiges von meinen Gedanken und Erfahrungen weitergeben kann. Und auch das macht mich unglaublich dankbar und das ganze Leiden auch wieder sinnvoll.

Eben gerade fällt mir ein, dass ich durch den Ausstieg und das Öffentlichmachen der ganzen Geschichte so viele neue Menschen kennenlernen konnte. Interessante, faszinierende, liebenswürdige Menschen, die mich selbst wieder extrem inspiriert haben. 

Und so kann jede Geschichte, sei sie auch noch so schrecklich, etwas Gutes hervorbringen. Etwas, das man am Anfang des Weges vielleicht noch überhaupt nicht erkennen konnte. Und schon gar nicht für möglich gehalten hätte.

*Fussnote zur Literatur der Zeugen Jehovas

Der Tagestext vom 14. Januar 2019 besagt folgendes: “Auch wenn es schwer fällt, müssen wir unnötigen Kontakt mit einem ausgeschlossenen Familienmitglied vermeiden – sei es telefonisch, brieflich oder über Textnachrichten, E-Mails oder soziale Netzwerke.”

Seit kurzem allerdings kann man diese Tagestextbroschüre von 2019 nicht mehr auf der Seite der Wachtturm-Organisation finden. In der Sprache “Englisch Ugandan Sign Language” ist sie noch zu finden. Unter diesem Link, man muss einfach eine Weile Scrollen bist man auf den 14.Januar 2019 stösst.

Der Tagestext wird immer aus einem Wachtturm zitiert, diese Quellenangabe steht am Ende jedes Tagestextes. Bei diesem Tagestext wurde als Quelle der Studienwachtturm vom Oktober 2017 erwähnt. Auf der Seite 16, Absatz 19 wurde nun online der Begriff “ausgeschlossenes Familienmitglied” gelöscht, als hätte der Wachtturm so etwas nie behauptet. In der englischen Version steht er noch drin (fragt sich wie lange noch): Watchtower 2017 October, Absatz 19.

Der Grund für diese Aktionen liegt meiner Meinung nach auf der Hand. Das Schweizer Urteil, über das ich auch ein Video machte, kann Auswirkungen darauf haben, ob die Berechtigung der Zeugen Jehovas in Deutschland eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu sein in Frage gestellt werden muss. Sie hatten diesen Status damals nur erlangt, weil sie behaupteten, dass ein Kontaktverbot innerhalb der Familie nicht stattfinden würde.

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4 Comments

  • Margit Ricarda Rolf

    Moin Natalie,

    ich hatte schon lange keinen dieser Alpträume mehr. aber in meiner aktiven Ausstiegszeit, also ungefähr 5 Jahre nach meinem Ausstiegsschreiben, da habe auch ich vieles in meinen Träumern verarbeitet.

    Meinen schrecklichsten Traum möchte ich dir nicht vorenthalten. Ich schicke vorweg: ich war Raucherin vorher.

    Der Alptraum:

    Ich ging oder schlich durch einen Torbogen auf einen Hinterhof und suchte hinter einem Auto Schutz vor Entdeckung, ging dabei leicht in die Hocke, kramte herum und brachte endlich eine alte Zigarette und ein Feuerzeug zum Vorschein. Ich senkte den Kopf tief und zündete mir die Zigarette an, wollte gerade einen Zug nehmen, da kamen Harald Schütte, der Schulaufseher und Jürgen Brietzke, der Sekretär um die Ecke direkt auf mich zu. ich versuchte die Zigarette und den Rauch zu verbergen und war sehr aufgeregt. Mein Herz raste. Die beiden fingen an, laut zu lachen, kramten ihrerseits Zigaretten heraus und zündeten sie sich genüsslich an. Ich war so perplex, dass mir schier das Herz stehen blieb.

    Dann wachte ich auf und war schweißgebadet.

    Liebe Grüße
    Ricarda

    • Natalie

      Liebe Ricarda
      Danke für Deine Schilderung. Ich kann mir das sehr gut vorstellen, dass das ein Alptraum war. Einer, der die Zeugen Jehovas nie erlebt hat, versteht gar nicht, wieso das eine Alptraum bereiten kann. Aber der Druck schon bei Kleinigkeiten ist in dieser Organisation so hoch, das ist unglaublich.
      Liebe Grüsse
      Natalie

  • Ash-Li

    Ja, ich kenne diese Alpträume auch. Sie begleiteten mich Jahrzehnte. So lange, bis ich meine Geschichte im Internat verarbeitet habe. Es wirkte bei mir nachhaltig. Zum Glück. Das wünsche ich Euch auch.

    Als ich Zeugin wurde, war es noch so, wie Du, liebe Natalie, beschrieben hast mit den ausgeschlossenen Familienmitgliedern. Es wurde immer wieder von der Bühne gepredigt, dass mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern nach wie vor Kontakt haben kann – ausgenommen, was den Glauben betrifft. Diese Haltung finde gut. Aber leider wurde die leitende Körperschaft in Form der Altherrenriege dann anscheinend immer rigoroser. Jetzt grenzt es ganz gewaltig an Unmenschlichkeit, wie sie sich verhalten. 🙂

    • Natalie

      Liebe Ashli
      Das stimmt. Das verhalten wurde immer rigoroser in den letzten Jahren. Schön, dass Du Deine Alpträume hinter Dir lassen konntest. Das freut mich sehr! Die Verarbeitung braucht einfach sehr viel Zeit, nicht wahr?
      Alles alles Liebe auch weiterhin für Dich

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