Freundesfrust – Was sind wahre Freunde?
Manchmal macht so eine Sekten-Vergangenheit sehr einsam. Es gibt wenig Menschen, die das, was man erlebt hat, verstehen können. Manchmal braucht man nicht mal unbedingt jemanden, der es verstehen kann, sondern jemanden, der einen als Mensch einfach so annimmt und sein lässt, wie man ist. Ohne Veränderungswünsche oder Ratschläge, wie man diese Vergangenheit hinter sich lässt. Wahre Freunde eben.
Als ich anfing mit anderen und öffentlich über meine Sektenvergangenheit zu sprechen, hatte ich das Gefühl, dass die Menschen interessiert waren und mich NICHT mit argwöhnischen Augen betrachteten – nach dem Motto «was ist das wohl für ein Mensch, wahrscheinlich total verkorkst, weil sie in einer Sekte war».
Nein, ich hatte wirklich das Empfinden, dass da von vielen Seiten Verständnis vorhanden war und ich neue Freunde dazugewann, die mir in der schweren Zeit zur Seite standen, als meine Familie und frühere Freunde alle Verbindungen zu mir kappten.
Freunde – so naiv war ich
Heute denke ich manchmal, vielleicht habe ich die andere Seite, diejenigen, die damit gar nichts anfangen können, einfach geflissentlich übersehen. Vielleicht habe ich ausgeblendet, dass sich sogar manche meiner neuen «Freunde» regelrecht bedroht fühlen, wenn man so offen über eine nicht gerade glorreiche Vergangenheit spricht. Ich konnte einigen dieser neuen Freunde schon ein paar Mal was erzählen, aber «bitte nicht zuviel, da ist mir zuviel Negatives dabei».
Am Anfang scheint so eine Geschichte interessant zu sein. Man wird bewundert, weil man es schaffte auszusteigen und seine Familie hinter sich zu lassen. Aber dann kommen die «tollen» Ratschläge. Oder es folgt Schweigen und Distanz.
Ich habe auch immer wieder besonders schlaue Leute erlebt, die glaubten, man müsste innerhalb eines bestimmten Zeitraums die Vergangenheit verarbeitet und hinter sich gelassen haben. Die mir ihre Meinung, man müsste endlich vergeben, sonst könne man nicht glücklich werden, regelrecht aufdrängten.
Unverständnis, Schweigen, Distanz
Unverständnis oder Schweigen, als der Artikel in der Zeitung «Blick» über mein Leben veröffentlicht wurde. Auch von nahen Freunden. Dabei war dieser Augenblick einer der emotionalsten in den letzten Monaten für mich, weil ich offen aussprach, was viele durch diese Sekte erleben, aber nicht kommunizieren oder verarbeiten konnten.
Ich hatte eine Scheiss-Angst, als der Artikel veröffentlicht wurde. Ich fürchtete, dass nicht alles so widergegeben würde, wie ich es gesagt habe. Und ich fürchtete das negative Feedback und dass meine Geschichte einfach als «Blödsinn» von manchen abgetan würde, die glauben besser Bescheid über Zeugen Jehovas zu wissen. «Weil die doch in der Öffentlichkeit so unauffällig und freundlich sind».
Ich hatte da auch schon das Gefühl, dass manche Menschen mich als die «Sektengeschädigte Psychotante» abtun würden.
Und dass sogar einige Aussteiger (wie auch schon bei meinen Videos) ihren Unmut, ihre Aggression und ihren Neid kundtun würden.
Zu wissen, es ist wichtig und die Konsequenzen ertragen
Gleichzeitig wusste ich, dass dieses Öffentlichmachen eines Verbrechens (nichts anderes ist dieser seelische Missbrauch von klein an, der «Soziale Tod» und das Entzweireissen von Familien) eines der wichtigsten Dinge ist, die ich tun kann. Die Scham und die Schuldgefühle, die man als Aussteiger oft noch Jahre später verspürt, verhindern oft, all den Schmerz verarbeiten zu können. Man bleibt vielleicht jahrelang in den Trauma-Folgen gefangen.
Mit den meisten Menschen kann man über diese Vergangenheit nicht sprechen. Allein dass es andere gibt, die das gleiche verspüren, macht es deshalb leichter, damit zu leben. Mir selbst geht das so. Und viele Aussteiger, die mir schrieben, sehen das ebenfalls so.
Freunde sind nicht gleich Freunde
Eine absolute Gefühlsachterbahn. Das für mich «Reinigende», etwas das mir die Augen geöffnet hat, war, dass Menschen, die sich als meine «Freunde» bezeichneten, über all das kein Wort verloren. Sich distanzierten. NICHTS zurückkam. Schweigen im Walde. Das Ignorieren von unangenehmen Tatsachen ist in manchen Kreisen ein regelrechtes ungeschriebenes Gesetz.
Ganz ehrlich? Ich bin sie langsam leid, diese pseudo-psychologischen Lebensweisheiten. Diese Menschen, die meinen, ihre Wahrheit wäre gleichzeitig die Wahrheit aller anderen, die sie ihnen nun verkünden müssten. Und dann höre ich mir die Probleme dieser «weisen» Leute an, die sie «überwunden» haben und kann mir ein spöttisches Lächeln einfach nicht mehr verkneifen.
Sorry, ich weiss, in diesem heutigen Artikel lasse ich Frust und Zynismus raus. Ja, auch das steckt in mir. Bin nicht stolz drauf. Aber so ist es. Wir haben sie alle diese schwachen und negativen Momente.
Für wen und was ich trotzdem dankbar bin
Und trotz allem bin ich dankbar. Das kann ich aus tiefstem Herzen sagen. Denn ich wurde in all der Zeit, als ich meine Geschichte anfing öffentlich zu machen, auch reich beschenkt. Von Menschen, die mir nicht mal so ganz nahestehen. Manche habe ich nie persönlich getroffen. Ich habe eine unglaubliche Wertschätzung erlebt, mutmachende Worte, Geschenke, Spenden für meine Arbeit. Mit manchen fühle ich eine Verbindung, die 100erte oder 1000ende Kilometer überwindet.
Ich möchte so schnell niemanden mehr als «Freund» bezeichnen. Ich glaube, dass man aufgrund des Schwarz-Weiss-Denkens in der Sekte («Die Guten, denen Du vertrauen kannst sind auch Zeugen Jehovas. Die Schlechten, denen Du nicht trauen kannst, sind keine Zeugen Jehovas.») erst einen gesunden Umgang mit anderen Menschen lernen muss.
Ich habe oft viel zu schnell vertraut. Da war jemand nett und freundlich zu mir, bezeichnete mich als gute Freundin und schon glaubte ich, dass ich einen wirklichen Freund / eine wirkliche Freundin gefunden habe. Ich war sehr naiv. Anders kann man es nicht sagen.
Aber es gibt da definitiv ein paar Menschen, die ich in der letzten Zeit sehr ins Herz geschlossen habe und die es wert sind, mehr Kontakt mit ihnen zu pflegen, sie kennenzulernen. Ja, und wer weiss, was daraus wird im Laufe der Zeit?
Was sind wahre Freunde? Die Corona-Krise lehrt es mich
Die Corona-Krise hat mich zumindest eines nochmal sehr intensiv gelehrt: Einen wahren Freund erkennst Du nur unter nicht ganz optimalen Umständen. Ist er nach einem Gewitter, nach einer Meinungsverschiedenheit noch da? Kann er Dir auch unangenehme Dinge und Kritik offen ins Gesicht sagen und erträgt er das gleiche auch andersrum?
Übersteht die Freundschaft auch, wenn sich beide in unterschiedliche Richtungen entwickeln? Oder wird der Mensch dann aussortiert, weil er nicht mehr ins neue Weltbild oder Schema passt? Darf ich anders denken ohne für den «richtigen Weg» missioniert zu werden?
Und noch etwas ist mir in den letzten Monaten wichtig geworden: Ist der andere hauptsächlich auf seine persönliche Freiheit, seine Selbstbestimmung fixiert oder nimmt er auch Einschränkungen seiner Freiheit und Selbstbestimmung zugunsten anderer in Kauf?
Das sind meine Gedanken über Freundschaft. Mich würde brennend interessieren, wie Du Freundschaft siehst – egal ob Du selbst aus einer Sekte ausgestiegen bist und es lernen musstest, wie Beziehungen funktionieren oder ganz anders aufgewachsen bist.
DIESER TEXT ENTSTAND IM HERBST/WINTER 2020
4 Comments
Vanessa
Liebste Natalie,
Schon zum voherigen Thema bezüglich deines Buchs wollte ich unbedingt schon antworten, bin bis heute nicht dazu gekommen…
Auch ohne derzeitige Worte und Zeilen fühle ich mich bei deinen Zeilen immer warm und nah. ❤️ Danke dafür!
Natalie
Liebe Vanessa, Das finde ich wunderschön, dass Dich Dich warm und nah fühlst, wenn Du meinen Blog liest. Danke vielmals für Deine Worte!
Edith Leistner
Liebe Natalie,
ich könnte dir auf deine Frage, wie ich Freundschaft verstehe, sicherlich antworten. Aber ich möchte dir nicht meine Sicht der Dinge vorschreiben. Nur an einen kleinen Satz, den ich früher mal irgendwo gesehen habe, habe ich mich beim Lesen deines Artikels erinnert. Er lautet: “Freundschaft ist die Blüte des Augenblicks und die Frucht der Zeit.”
Liebe Grüße von Edith
P.S. Ich mag das zynische in deinem Artikel. Es kommt authentisch bei mir an.
Natalie
Liebe Edith, vielen Dank für Deine lieben Worte und der Spruch ist auf jeden Fall sehr nachdankenswert! Alles Liebe, Natalie